Alexander Kobler

La Vida

La Vida | Hammer Tackle
Ich komme mit den sozialen Medien immer weniger klar. Mich interessiert auch gar nicht was Hinz und Kunz den ganzen Tag treiben und was sie im Internet verbreiten – trotzdem werde ich davon angezogen. Fernsehen und Radio sind für mich auch extrem frustrierend. Fast ausschließlich schlechte Nachrichten, massenhaft Werbung und langweilige Filme. Also warum schalte ich die Glotze überhaupt ein? Ich fühle mich zunehmend isoliert von Anderen und erfahre auch keine Besserung durch die Kommunikation mit Handy oder Computer. Außerdem werden vier Wände für mich schnell zum Gefängnis. Trotzdem gehe ich nicht unter Leute. Eigentlich will ich gar keinen Platz mehr haben in dieser Gesellschaft. Das politische Geschehen ist angsteinjagend, es gibt scheinbar überall Kriege, Terrorismus, zunehmende Verfeindung der Länder und Handelsstreit. Dazu gibt es immer mehr Politiker, die richtig Banane sind. Der Papierkram rund ums tägliche Leben wird immer unübersichtlicher und die Rechnungen für dies und das immer zahlreicher. Überall Autos, Stau, donnernde Flugzeuge, Atomkraftwerke, immer mehr Müll und Umweltverschmutzung, eine extrem schrumpfende Waldfläche, 70% weniger Insekten, überhaupt eine stark abnehmende Artenvielfalt, dafür 1000% mehr Migranten. Ich bin über 40, hab noch nichts wirklich erreicht im Leben, keine große Hütte, fettes Auto, keine Kinder und hübsche Frau an meiner Seite und schon gar keine Yacht, Helikopter oder Millionen auf dem Konto. Im Gegenteil, meine Karre ist fast 20 Jahre alt, hat knapp 300.000 Kilometer auf dem Tacho und frisst 13 Liter Diesel bei nicht mal 120 Kilometern pro Stunde. Ich bin angekommen in der Midlife-Crisis, treffe kaum noch Leute abseits von Gewässern und eigentlich bleibt mir nur noch die Frustrations-App Tinder, um irgendwann mal wieder jemanden kennenzulernen. Also poliere ich ab und zu mein Ego in den sozialen Medien auf, teile hübsche Fotos mit netten Texten, um ein paar zärtliche Likes und Kommentare abzugrasen. Ja, es geht bergab mit mir, das Testosteron wird immer knapper, und auch die Motivation lässt nach, mit irgendeiner Superleistung, irgendjemanden zu beeindrucken. Die Haare werden dünner, die ersten grauen Stoppel durchziehen den Bart und ich sehe morgens aus, als ob ich ganze Nacht durchgezecht hätte. SCHNITT Das dampfende Wasser verfärbt sich leuchtend orange. Langsam und fast unmerklich weichen Kälte und zarter Bodenfrost einem herrlichen Sonnentag Ende Januar. Ein Rotkehlchen kommt herangeflattert und schaut durch den Zelteingang. Neugierig und ohne dass es irgendetwas will, beobachtet es mich beim Frühstücken. Es schaut wohl, wer da zugezogen ist. Der Ruf von Kranichen kündigt einen Zug quasi direkt über mein Zelt an. Ich liebe diese trompetenartigen Laute. Morgens, kurz bevor die Sonne durch den Nebel scheint, ziehen sie auf die beweideten Hügel knapp einen Kilometer westlich von mir und fliegen dann abends wieder lauthals zurück. Wahrscheinlich zu dem kleinen See, nur durch eine Mauer vom großen Stausee getrennt, ungefähr fünf Kilometer von meinem Platz gelegen, wo es von Kranichen nur so wimmelt. Ich kann es nicht lassen, husche mit der Knipse und dem Teleobjektiv wieder von Baum zu Baum, so dass sie mich nicht sehen können und unbehelligt weiter auf mich zufliegen. Doch in letztem Moment entdecken sie mich quasi immer und drehen mit lautem Krächzen ab. Mein Hund Chico ist mittlerweile schon lang auf Kaninchenjagd und wartet ungeduldig bis ich endlich zu ihm stoße. Also gut, los geht’s! Es ist wieder ein perfekter Morgen. Gleich beim Ankommen habe ich gespürt, dass ein Teil von mir hier zuhause ist. Keine einzige Ampel, keine Geschwindigkeitsmessungen, nur kleine Dörfer. Endlose Feldwege über altes Land regen immer wieder aufs Neue zum Träumen an. Der See der tausend Spitzen und Buchten, in dem es so viel zu entdecken gibt. Unendlich viele Stellen, an denen man gern mal angeln würde, unendlich viele Möglichkeiten, um seinen Traumfisch zu fangen. Der Traum von Freiheit, ungezähmter Natur und der Möglichkeit ganz für sich zu sein, ganz mit der Umgebung zu verschmelzen. Auf einigen Plätzen kann man im Winter Wochen verbringen, ohne einen Menschen zu sehen. Schafe, Hasen, Füchse und Wildschweine als einzige Besucher. Adler schrauben sich hoch in den Himmel, Milane und Falken kreisen über die Hügel, Geier ziehen über die Landschaft auch der Suche nach verendeten Tieren. Otter schwimmen an den Uferkanten entlang und naschen ein paar Krebse, während Kormorane nach kleinen Fischen tauchen. Und immer wieder wird man von einem Tier überrascht, dass man vorher noch nie gesehen hat. Es war die richtig Entscheidung, noch ein bisschen länger auf diesem Platz zu verweilen. Der Blutmond aktivierte die Karpfen so richtig. Immer mehr suchten die angefütterten Bereiche auf. Fast jeden Tagt fing ich zwei, drei Fische, alle in ihrem schönsten Winterkleid. Sie hatten Kohldampf. Und Chico erwischte tatsächlich noch ein Kaninchen. Ich glaube, er hatte das Junges ganz früh morgens am Bau, den er schon seit Tagen beobachtet hatte, aufgelauert. Es passierte, als ich in der Dämmerung mit dem Boot einen Fisch drillte. Als ich zurückkam sah ich nur noch die Hinterläufe aus seinem Maul hängen, bevor er es schnell runterschluckte. Wirklich nichts ließ er davon übrig, verspeiste es mit Fell und Pfoten, Kopf und Zähnen. Wir fühlten uns einfach sauwohl und wollten in diesen Tagen nirgendwo anders auf der Welt sein. Wir waren ganz im Moment – Zuhause am Wasser – zehrten von unseren Vorräten und verwilderten zunehmend. Die Natur beschenkte uns. Es war die Zeit der Wiesenchampignons, die mit den ersten Regenfällen des Jahres auf den Weiden sprießten, wenn das noch gelbliche Gras beginnt, neuer Frische zu weichen. Ganz unsere Zeit, in der das Bauchgefühl stimmte und wir tief in uns versunken und ganz instinktiv nur an die Jagd dachten. Diese Phase war der Anfang einer Serie an großen Fischen. Auch ein Traum ging noch in Erfüllung. Es war eine Zeit, wie sie befriedigender nicht hätte sein können. Wir waren frei.

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